Popkultur
„Leaving Neverland“: Doku über Missbrauchsvorwürfe gegenüber Michael Jackson
Die zurzeit umstrittenste Dokumentation der Welt lief am 6. April im deutschen Fernsehen: Leaving Neverland erzählt vom mutmaßlichen Missbrauch zweier Kinder durch den Superstar einer ganzen Generation, den „King of Pop“ Michael Jackson. Der zweiteilige, vier Stunden lange Film hinterlässt bei den meisten Zuschauern aus verschiedenen Gründen ein bedrückendes Gefühl. Wir haben ihn angesehen.
von Andrea Hömke
In Leaving Neverland vom britischen Filmemacher Dan Reed erzählen der 40-jährige James Safechuck und der 37-jährige Wade Robson von ihrer Kindheit mit Superstar Michael Jackson und davon, wie er sie über viele Jahre hinweg sexuell missbraucht haben soll. Im ersten Teil der Dokumentation geht es überwiegend darum, wie beide Jungen jeweils vom Fan zum ständigen Begleiter Jacksons und schließlich zu einer Art Partner werden. Safechuck war zehn, als er den Star bei einem Pepsi-Werbedreh kennenlernte, Robson sieben, als er den Musiker zum ersten Mal traf. Beide Männer berichten getrennt voneinander und trotzdem übereinstimmend davon, wie Jackson in ihr Leben tritt, wochenlang ununterbrochen Zeit mit ihnen verbringt, wie er sie zuhause in Australien besucht, auf Tour mitnimmt und letztlich auch in sein Bett holt.
Sehr deutlich schildern Robson und Wade Praktiken, die der Sänger mit ihnen vollzogen haben soll, wie er sie etwa durch Masturbation erst an Sex heranführte und schon kurze Zeit später zur gegenseitigen Stimulation übergeht. Von Küssen, Nippelstimulation und Oralsex ist die Rede; als die mutmaßlichen Opfer älter werden, geht Jackson angeblich noch weiter. Beide Männer beschreiben dabei ein sehr ähnliches Vorgehen des Musikers, und beide sprechen auch von Verliebtheit, Abhängigkeit und Manipulation. „Er war einer der gütigsten, sanftesten, liebevollsten Menschen, die ich kannte“, sagt Wade Robson in der Dokumentation. „Und er hat mich über sieben Jahre sexuell missbraucht.“
Der zweite Teil der Dokumentation beleuchtet vor allem die Prozesse wegen Kindesmissbrauchs gegen den „King of Pop“. Hier sehen wir, wie beide vermeintlichen Opfer erst im Erwachsenenalter, als sie selbst schon Väter sind, merken, was ihnen wirklich angetan wurde. Safechuck und Robson berichten, wie sie schließlich ihr Schweigen brechen und die mutmaßlichen Lügen revidieren, die sie sogar mehrfach vor Gericht äußerten.
Auch Familienangehörige der Jungen kommen zu Wort und schildern, wie sie Michael Jackson erlebten. Laut Safechucks Mutter verhielte er sich wie ein „kleines, kicherndes Kind“. „Er war für mich wie ein Sohn. Ich liebte ihn“, erklärt sie. Von den sexuellen Übergriffen wollen die Eltern der beiden Jungen nichts gemerkt haben. Doch immer wieder wirft der Film die Frage auf, warum sie es zuließen, dass ihre noch so jungen Söhne nächtelang im Bett von Michael Jackson schliefen, warum sie es zuließen, dass ihre Kinder stundenlang mit dem Popstar verschwanden, und warum sie nicht stutzig wurden, als ihre Hotelzimmer jedes Mal ein bisschen weiter weg von der Unterkunft Jacksons gebucht wurden.
Filmemacher Reed sorgt mit einer leisen und unaufgeregten Art dafür, dass der Zuschauer sich den Schilderungen der Männer und ihrer Angehörigen kaum entziehen kann. Mit Hilfe von sehr privaten Fotos, Tonbandaufnahmen und Briefen wird man in die Welt der beiden Familien gezogen und bekommt eine Ahnung davon, wie es gewesen sein muss, den größten Superstar der Erde zum „Freund“ zu haben. Genau diese einzigartigen Dokumente sind es aber auch, die ein Bild von einem Michael Jackson zeigen, der wie besessen von den beiden Kindern zu sein schien. Eine Galerie mit Bildern von Safechuck und Robson könnt ihr hier sehen.
In einer Schlüsselszene holt James Safechuck mit zitternden Händen einen kleinen, mit Diamanten besetzten Goldring aus einer schwarzen Schatulle – und der Zuschauer erkennt deutlich, dass es ein Schmuckstück für eine Kinderhand ist. Michael Jackson habe ihm diesen Ring gekauft und in einer heimlichen Zeremonie so getan, als würden die beiden heiraten.
Alles Lüge? Alles Wahrheit? Die beiden Männer wirken bei ihren Schilderungen glaubhaft, die emotionale Wirkung ist beträchtlich. Einen Fehler musste Filmemacher Reed vor wenigen Tagen eingestehen: Safechuck berichtet in der Dokumentation vom Missbrauch im Bahnhof von Neverland. Der wurde jedoch erst ein Jahr nach den angeblichen Vorfällen gebaut. Allerdings macht diese Inkorrektheit bei einer über viele Jahre zurückliegenden Erinnerung nicht notwendigerweise die gesamte Darstellung unglaubwürdig.
Schwerer wiegt, dass die Dokumentation ausschließlich die Seite der mutmaßlichen Opfer hört. Es gibt außer Familienangehörigen von Safechuck und Robson keinerlei Interviewpartner und keine weiteren Quellen. Weder die Familie von Jackson kommt zu Wort, noch Ermittler, Sachverständige oder ehemalige Angestellte, die zum Teil auch im Prozess gegen den Musiker ausgesagt hatten. „Es geht in diesem Film nicht um Michael Jackson“, kommentiert Reed. „Ich weiß noch nicht einmal besonders viel über ihn. Es ist letztlich egal, ob es Jackson ist, ein Priester oder ein Freund der Familie, dem man sein Kind anvertraut hat.“
Doch Michael-Jackson-Fans weltweit laufen Sturm gegen Leaving Neverland und wollen die Anschuldigungen, die in dem vierstündigen Film des US-Senders HBO erhoben werden, nicht glauben. Und das ist ihr gutes Recht. Genau so, wie Zuschauer der Dokumentation den beiden mutmaßlichen Opfern glauben dürfen. Denn der Film ist kein Gerichtsprozess und keine wissenschaftlich oder journalistisch stichhaltige Aufarbeitung. Er kann somit letztlich nicht klären, was damals wirklich passierte. Allerdings, und das sollte jedem klar sein, hat Michael Jackson wiederholt Grenzen überschritten. Denn es ist für einen erwachsenen Mann vielleicht nicht strafbar, mit kleinen Jungs so eng befreundet zu sein, womöglich nicht mal, sie sogar nachts ins Bett zu holen. Aber es geht eindeutig zu weit.
(Titelfoto: Michael Jackson mit dem 10-jährigen James Safechuck im Tourflugzeug am 11. Juli 1988 – Pic: Dave Hogan/Getty Images)
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